Warum High Noon nicht High Noon bleiben muss. Zu Merkel und Seehofer

Ein sehr genau recherchiertes Lehrstück zum Thema: So funktioniert Politik.

1) Alles kleines Karo
2) man sieht sich immer dreimal
3) man muss sich nicht immer riechen können. Aber spürbar sein
4) Xairos. Die Konstellationen ändern sich.
5) Politische Handlungstypen. Typ 4: Die politschen Außenseiter. Merkel und Seehofer.

Der Text. Aus der Süddeutschen. Dank an Nico Fried.

Ein interessanter Artikel aus der App der Süddeutschen Zeitung:

Titelseite, 06.09.2013

CDU/CSU

Aber unsere Liebe nicht
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Von Nico Fried

Berlin – Jetzt ist also das mit der Maut passiert. Kitzlig. Gleich am Sonntagabend haben Angela Merkel und Horst Seehofer telefoniert, nachdem die Kanzlerin im Fernsehduell deutlicher denn je gesagt hat: mit mir nicht. Am Montag haben sie noch mal telefoniert, als Seehofer im Bierzelt gerufen hatte, wer mit ihm Streit wolle, könne ihn haben. Merkel und Seehofer müssen sich jetzt immer dem jeweils anderen erklären. Damit sie nicht wirklich Streit kriegen.

Vielleicht hilft’s sogar, was Merkel gesagt hat. Bei Seehofers Auftritten ist die Maut immer ein Knüller. Für nix anderes bekommt er im Landtagswahlkampf mehr Beifall als für die stark vereinfachte Rechnung, dass nicht nur wir im Ausland fürs Autofahren zahlen sollen, sondern die Ausländer auch bei uns. Jetzt kann er sich auch noch als Michael Kohlhaas inszenieren, der allen Widerständen trotzt, sogar der Kanzlerin. Und wenn er Merkel doch schadet? „Man wird erst am Wahlabend sehen, wo’s langgeht“, sagt einer aus der CSU.

Klingt wie eine Drohung.

Den Untergrund, auf dem sie sich jetzt bewegen, kennen Merkel und Seehofer bestens: ein ganz schmaler Grat. Und sie hängen voneinander ab. Hier Horst Seehofer, nicht der einzige Mann in der Union, der wegen Merkel schon mal abgedankt hat, aber definitiv der einzige, der wieder zurückkam. Da Angela Merkel, die erste aus der CDU seit vielen Jahren, von der man in der CSU glaubt, dass sie mehr nützt als kaputt macht. Aber noch nicht lange.

„Wenn beide stark sind, gibt es keine Rivalität“, sagt einer, der das beurteilen kann. Wichtig an diesem Satz ist der Umkehrschluss. Den muss man sich merken.

Merkel und Seehofer, das ist eine kühl kalkulierte politische Zugewinngemeinschaft. Ihr Erhalt bemisst sich am Erfolg. Beide unterscheiden Freundschaften fürs Leben von politischen Kameradschaften auf Zeit. Ihr Verhältnis ist Letzteres. Das kann nicht anders sein, nach allem, was Merkel und Seehofer in 20 Jahren erlebt haben. Miteinander. Gegeneinander.

Angela Merkel, die junge Frau aus dem Osten, ist schon seit zwei Jahren Ministerin, als Horst Seehofer 1992 von Helmut Kohl für das Gesundheitsressort berufen wird. Er war Staatssekretär bei Norbert Blüm, ein profilierter Sozialpolitiker. Kaum im Amt, muss er einen Skandal wegen verseuchter Blutkonserven meistern. Später eine Gesundheitsreform – das ist neben der Entscheidung über Krieg und Frieden das Schlimmste, was einem deutschen Politiker passieren kann.

Dann wird Merkel Umweltministerin, 1996 will sie eine Sommersmogverordnung durchsetzen. Sie hat alles vorbereitet, sie glaubt, mit allen gesprochen zu haben, die sie dafür braucht, natürlich auch mit dem Kanzleramt. Aber Helmut Kohl will keine Sommersmogverordnung. In der Kabinettssitzung sucht er nach einem Vorwand, die Sache loszuwerden. Ob sie darüber auch mit Michael Glos gesprochen habe, dem CSU-Landesgruppenchef, fragt der Kanzler seine Ministerin. Glos? Nein, mit dem hat sie nun gerade nicht gesprochen. Das Projekt ist erledigt. Merkel beginnt im Kabinett zu weinen.

Seehofer, so notieren es Reporter der Financial Times Deutschland, soll damals Vertrauten gesagt haben: „Die hat sich nicht im Griff.“ Er wisse das nicht mehr, sagt er heute. Könne sein. Tränen wegen so einer Frage? „Des gibt’s nicht.“

Ende der 90er-Jahre lernen sich Merkel und Seehofer näher kennen. Sie gehören einem kleinen vertraulichen Kreis von Unions-Politikern an. Unabhängige Köpfe treffen sich da, nur ein paar, Norbert Lammert ist dabei, Seehofer der einzige aus der CSU. Man redet offen. Es ist in der Dämmerung der Kohl-Ära ein Kreis von Leuten, die noch was vorhaben in ihrem politischen Leben. Allerdings jeder für sich. Deshalb besteht der Kreis auch nicht lange.

Aber interessant ist es schon, dass gerade Merkel und Seehofer dabei waren. Wie verschieden sie sind, die nüchterne Protestantin aus dem Osten und der emotionale Katholik aus Bayern, das ist nicht schwer festzustellen. Mit den Gemeinsamkeiten sieht’s schon anders aus. Beide sind in ihren Parteien lange Zeit Außenseiter geblieben. Sie haben einen scharfen Blick für Leute, die sich aufplustern, wenn auch unterschiedliche Arten, damit umzugehen: Seehofer spottet offen, stellt Leute bloß; Merkel lästert, aber verletzt nicht. Beide verlassen sich am liebsten auf sich selbst.

Das gilt auch in ihrer Zweierbeziehung.

Doch im Wahljahr 2013 sind Merkel und Seehofer aufeinander angewiesen wie nie zuvor. Sie preisen sich ohne Unterlass.

Ein Treffen mit Horst Seehofer in Kloster Banz. Er sitzt im Abtzimmer, draußen strahlendes Wetter und politisch sowieso ein großes Umfragehoch für die CSU. Seehofer sagt über Merkel: „Wir haben ein fast blindes Verständnis. Wir müssen nie lange drumherum reden, es geht immer gleich auf den Punkt. Sie ist immer gut informiert, verlässlich und standfest.“

Besuch bei Angela Merkel im Kanzleramt. Sie sagt über Seehofer:“Er ist ein Homo Politicus mit großer Leidenschaft. Er hat ein gutes Gespür für Stimmungen. Und er ist bei allen Unterschieden im entscheidenden Moment kompromissfähig.“

Doch da bleibt immer diese Ungewissheit. Sie hängt über diesem ungleichen Duo wie Bratengeruch in einer Küche am Morgen danach: Man kriegt das nicht weg.

Merkel lobt die bayerische Wirtschaft und die bayerische Bildungspolitik. Sie fordert eine Reform des Länderfinanzausgleichs, auch wenn sie in Bayern alleine auftritt. „Das sage ich jetzt, obwohl der Horst Seehofer gar nicht da ist“, ruft sie ins Bierzelt. Soll heißen: Stellt euch das mal vor!

Seehofer nennt Merkel die mächtigste Frau der Welt; er sagt, die CSU sei kein brüllender bayerischer Löwe mehr, sondern ein schnurrendes Kätzchen. Er scherzt über die drohende Übernahme der CSU durch Merkel. Er nennt das „die Abteilung Unterwerfung“. Er übertreibt maßlos und ironisiert damit alles. Vielleicht hält er es nur so aus, jetzt diese Freundlichkeiten über Merkel sagen zu müssen.

Sie ist wichtig für ihn, aber sie ist auch die einzige Person in seinem politischen Universum als Ministerpräsident und CSU-Vorsitzender, für die er nicht der Chef ist. Neben ihr ist anders. Auch deshalb bleibt da dieser Zweifel: Merkel und Seehofer? Das kann doch eigentlich gar nicht sein.

Nach der Wahlniederlage 1998 holt der neue CDU-Chef Wolfgang Schäuble Merkel als Generalsekretärin. In der Spendenaffäre schreibt sie einen Aufsatz, in dem sie fordert, die CDU müsse Kohl überwinden. In der CSU sind viele überrascht.

„Haben Sie damals gedacht, die spinnt, Herr Seehofer?“

Lange Pause.

„Anspruchsvoll fand ich’s schon.“

Merkel steigt auf zur CDU-Vorsitzenden. Doch am 11. Februar 2002 muss sie Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur überlassen. Eine Woche nach dem Wolfratshausener Frühstück kommt Seehofer in Ingolstadt wegen einer Herzerkrankung in die Klinik. Merkel ruft ihn zweimal an und erkundigt sich nach seinem Befinden.

Zwei Ausgebremste unter sich.

Stoiber verliert, Merkel übernimmt auch noch den Vorsitz der Unionsfraktion. Sie ist jetzt deutlich stärker als Seehofer. Zum ersten Mal entsteht Rivalität.

In neun Tagen könnte Seehofer bei der Landtagswahl in Bayern mit Merkel einen politischen Triumph feiern, von dem er vor neun Jahren weiter entfernt zu sein schien denn je – wegen Merkel.

Es ist der 22. November 2004, als Horst Seehofer von seinem Amt als stellvertretender Fraktionschef zurücktritt. Monatelang haben CDU und CSU, Merkel, Stoiber und Seehofer über die Gesundheitspolitik gestritten. Es ist die Zeit der großen Entwürfe, auf dem Leipziger Parteitag im November 2003 wurde Merkel für ihr Reformprogramm bejubelt. Im Gesundheitswesen soll es statt einkommensabhängiger Beiträge pauschale Prämien geben.

Die CSU lehnt die Kopfpauschale kategorisch ab. Aus der CDU hagelt es Attacken, vor allem gegen Seehofer. „Ich bin zäh“, sagt Merkel während eines Streits mit ihm. „Ich auch“, antwortet er.

Merkel will Kanzlerin werden. Sie muss mit ihrem Reformdrang auch die Konkurrenten in der eigenen Partei in Schach halten, Roland Koch, Christian Wulff . . .

Seehofer will Minister werden. In diesen Wochen 2004 erzählt er gerne die Geschichte, wie ihn 1998 nach der Ablösung der Kohl-Regierung angeblich nicht einmal mehr der Pförtner grüßte, als er das Gesundheitsministerium verließ. Da habe er sich geschworen wiederzukommen.

Merkel hat wie Millionen DDR-Bürger einen großen Umbruch erlebt. Sie findet es selbstverständlich, dass sich auch der Westen ändern muss. Dabei schätzt sie falsch ein, wie sehr die Menschen an ihren Sozialsystemen hängen. Jeder Eingriff ein Vertrauensbruch.

Seehofer glaubt, die Niederlage 1998 sei auch auf eine Gesundheitsreform zurückzuführen, die er für sozial unausgewogen hielt, aber trotzdem verantworten musste. Das soll ihm nicht noch mal passieren.

Dann gibt Stoiber nach. Der CSU-Chef stellt die Geschlossenheit der Union über die Bedenken in seiner Partei. Er verständigt sich mit Merkel auf einen Kompromiss, der noch komplizierter ist als die ohnehin schon komplizierten Pläne. Seehofer hadert tagelang. Und tritt zurück.

Von da an sagt er stets: „Wer Frau Merkel unterschätzt, hat schon verloren.“ Es ist eine Warnung, aber auch ein Eingeständnis. Seehofer hatte nicht für möglich gehalten, dass Merkel seine CSU rumkriegen und Stoiber ihn politisch opfern würde. Er hat ein Wort dafür: Genickschuss.

Seehofer sagt, 2004 sei er politisch tot gewesen. Außer ihm glaubt das damals niemand. Und auch er selbst malt seinen Fall wohl ein wenig tiefer, um seinen Wiederaufstieg umso höher wirken zu lassen.

Im Wahlkampf 2005 tritt Merkel bei Seehofer in Ingolstadt auf. Sie bringt eine CD von Drafi Deutscher mit: „Marmor, Stein und Eisen bricht . . .“ Als hätte sie’s geahnt.

An einem Sonntag im November 2005 klingelt bei Horst Seehofer das Telefon. Stoiber ist dran und sagt: „Sie stimmt jetzt zu.“ Seehofer soll ins Kabinett der großen Koalition. Das Comeback.

Stoiber will Seehofer in Berlin haben, weil er ihn fürchtet. Seine politische Statur imponiert ihm, aber er weiß: Der ist nicht mein Freund. Seehofer ruft Merkel an. Ihre erste Wahl war er nicht. Es wird ein kurzes Gespräch – sie will gerade unter die Dusche. Am Morgen habe sie sein Interview im Tagesspiegel gelesen, erzählt Merkel. Darin hat Seehofer gesagt: „Wenn ein Mensch alles vergisst, ist er arm dran. Aber wenn er nichts vergessen kann, ist er viel ärmer dran. Deshalb ist für mich die Vergangenheit jetzt wirklich Vergangenheit.“ Das sei doch ’ne Grundlage, sagt Merkel.

Seehofer bekommt das Landwirtschaftsministerium. Nichts Soziales. Das war Merkels Bedingung. Einige Tage später hält er seine Ernennungsurkunde in Händen. Es ist der 22. November 2005, der erste Jahrestag seines Rücktritts als Fraktionsvize.

Seehofer reißt sich in der ersten Zeit der großen Koalition zusammen, so weit das einem wie ihm möglich ist. Er wird nicht unbedingt gebraucht, aber er braucht den Job. In der CDU hat man den erbitterten Gesundheitsstreit nicht vergessen. In den Koalitionsverhandlungen, als sich Seehofer am Rande mit Frank-Walter Steinmeier unterhält, witzelt CDU-Vize Christian Wulff über die „zwei Sozialdemokraten“.

Nur einmal lässt sich Seehofer beim Lästern erwischen: „Mittwoch ist Kabinettstag. Antreten bei Angela Merkel. Befehle entgegennehmen, was man sagen und denken darf.“ Ironisch sei das gemeint gewesen, sagt er später. Natürlich.

Ironie ist für Seehofer Waffe und Schild zugleich. Mit Ironie kann er sich weit vorwagen und zur Not wieder rausreden. Sie macht ihn amüsant – und schwer kalkulierbar. Merkel hat sich an diesen Humor gewöhnt. Sie geht bei Seehofer selten mit einem Scherz in Vorleistung, sie retourniert lieber, meist flapsig. Als Seehofer in Kloster Banz vor Journalisten zu Merkel sagt, er werde jetzt acht Wochen schüchtern sein, antwortet Merkel: „Die Interpretation deiner Worte überlasse ich dir, mein Lieber.“

Montag, der 16. Januar 2007. Seehofer ruft am frühen Morgen die Kanzlerin an. Bild berichtet an diesem Tag über seine außereheliche Affäre. Seehofer sagt, er klebe nicht an seinem Stuhl. Merkel antwortet, das Amt stehe nicht zur Debatte. Er solle seine Angelegenheiten regeln. Fünf Tage später begleitet sie den Landwirtschaftsminister auf die Grüne Woche. „Sie war da kerzengerade“, sagt Seehofer heute.

Der Bericht über Seehofers Privatleben hat auch einen politischen Hintergrund: Er will CSU-Chef werden. Damit ist es erst mal vorbei. Stattdessen wird Erwin Huber Parteivorsitzender, Günther Beckstein Ministerpräsident. Vor den Landtagswahlen 2008 wollen sie sich mit der Pendlerpauschale profilieren. Merkel hält offen dagegen. Sogar auf dem CSU-Parteitag.

Ob Seehofer diese Episode durch den Kopf ging, als er am Sonntag Merkels Nein zur Maut im Fernsehen sah?

Dabei ist er damals der Profiteur: Merkel lässt Huber, den sie 2005 sogar als Kanzleramtsminister erwogen hatte, ins Leere laufen, nimmt ein Fiasko der CSU in Kauf – und hilft damit, Horst Seehofer doch noch den Weg zu ebnen, in den CSU-Vorsitz und in die Staatskanzlei. Ausgerechnet Merkel, ausgerechnet Seehofer. Marmor, Stein und Eisen bricht . . .

Nachdem Seehofer den Parteivorsitz übernommen hat, lädt Merkel ihn zum Abendessen ins Kanzleramt ein. Man duzt sich jetzt. Angela und Horst besprechen die gemeinsame politische Agenda.

Aber Seehofer hat noch eine eigene.

Die CSU liegt am Boden, er steht unter Druck. In der großen Koalition kommt es auf die CSU rechnerisch nicht an. Also braucht sie künstliches Gewicht. Huber war für Merkel berechenbar. Die CSU muss aber unberechenbar sein, damit man sie ernst nimmt. So geht Seehofers Kalkül.

In den ersten Monaten greift er von München aus an, er fordert, blockiert, mäkelt und streitet über die Erbschaftsteuer, die Europa-Politik und ein Umweltgesetzbuch. Die große Koalition lahmt. In der Finanzkrise setzt er mit großer Härte Steuersenkungen durch.

Das Verhältnis zu Merkel ist schwierig. Seehofer sieht sich durch die Krise als Sieger der Geschichte. Dem Spiegel sagt er im Februar 2009: „Ich empfinde es als große Genugtuung, dass dieses Gesellschafts- und Wirtschaftsbild der letzten Jahre zusammengebrochen ist.“ Ob er damit die Politik meine, die Angela Merkel 2003 in Leipzig vertreten habe? „Nicht nur, aber auch.“

In Nürnberg eröffnen Seehofer und Merkel in jenen Tagen gemeinsam die Spielwarenmesse. Der Ministerpräsident erzählt von seiner Spielzeugeisenbahn, auf der er das große Leben im Kleinen nachbaue. „Im Moment suche ich für die Bundeskanzlerin einen Platz“, sagt Seehofer, als sei nicht er neu im Amt, sondern sie.

Nach der Veranstaltung muss Merkel nach Berlin zurück. Seehofer will auch in die Hauptstadt, am nächsten Tag ist Bundesrat. Sie bietet ihm an, in der Regierungsmaschine mitzufliegen. Auch für seine Sicherheitsleute sei noch Platz. Seehofer ziert sich, sagt, er wolle noch Akten lesen. Das könne er auch im Flugzeug, antwortet Merkel, sie werde ihn schon in Ruhe lassen. Seehofer lehnt ab. Er nimmt das Auto.

Herbst 2009. Union und FDP haben die Wahl gewonnen. Aber die Stimmung in den Koalitionsverhandlungen ist schlecht. In der CDU hadern die einen mit dem schwachen Ergebnis der Partei. Andere wissen, dass sie trotzdem nicht mehr an Merkel vorbeikommen werden, nachdem sie die Union in die Wunschkoalition mit den Liberalen zu führen vermocht hat.

Die Kanzlerin ist auf dem Höhepunkt ihrer Macht und hat doch nur Probleme. Sie ringt mit einer FDP, die vor Kraft kaum laufen kann, und mit einer verunsicherten CSU, deren Ergebnis nicht berauschend war. In diesen Tagen empfindet Merkel Seehofer als wenig loyal. Sie überlässt der CSU drei Ministerien, obwohl ihr nur zwei zustünden. Das stärkt Seehofer in der eigenen Partei. Zum Dank drückt er mit der FDP die Steuersenkung für Hoteliers durch. Es ist ein Makel, von dem sich die Koalition lange nicht erholt.

Die schwarz-gelbe Regierung vegetiert lange Zeit mehr, als dass sie regiert. Immer wieder gibt es Streit. Im Oktober 2011 verkünden Finanzminister Wolfgang Schäuble und Wirtschaftsminister Philipp Rösler an einem Vormittag in Berlin den Plan für eine Steuerreform. Noch während der Pressekonferenz schimpft Seehofer in München, dies sei so mit ihm nicht abgesprochen. Einem Koalitionsausschuss bleibt er fern, wütet lieber in der Presse weiter.

Dann taucht er ganz ab, tagelang. Ist nicht zu erreichen. Und das nicht zum ersten Mal. Für Seehofer ist Politik auch ein Spiel. Und ab und an spielt er eben nicht mehr mit; freut sich wie ein Kind, dass Merkel ihr Büro in der Staatskanzlei anrufen und vergeblich ausrichten lässt, dass die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gerne den Ministerpräsidenten des Freistaats Bayern sprechen möchte.

An einem Wochenende im Februar des Jahres 2012 stehen Merkel und Seehofer im Kanzleramt. Sie schauen zum Fenster hinaus in den Berliner Tiergarten. „Angela, ich muss dich das jetzt fragen“, sagt Seehofer plötzlich. Es ist der Tag nach dem Rücktritt von Christian Wulff. Seehofer ist der amtierende Bundesratspräsident und somit kommissarisches Staatsoberhaupt. Aber er ist auch CSU-Chef. Er kann es wagen, die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende wenigstens mal zu fragen: „Du hast kein Interesse?“ Merkel winkt ab. Nein, sie möchte nicht Bundespräsidentin werden.

Die CDU verliert eine Landtagswahl nach der anderen. Nur Angela Merkel wird immer populärer. Die CSU in Bayern auch. Das Verhältnis zwischen Merkel und Seehofer entspannt sich. Nur einmal taucht er noch ab, im Streit um das Betreuungsgeld. Er bleibt aber nicht so lange weg.

Eines Abends sitzt die Koalitionsführung im Kanzleramt und plaudert. Merkel erzählt, wie sie in der DDR Fenster für ihre Datscha organisierte. Plötzlich erinnert sich die Runde an Karl-Theodor zu Guttenberg und seine Attitüde, jede Diskussion mit einer Rücktrittsdrohung zu begleiten, weil er auf die Politik ja angeblich nicht angewiesen sei. Das ging Merkel und Seehofer immer wahnsinnig auf den Geist. Für beide ist Politik nicht alles.

Aber fast.

Nico Fried
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Nico Fried leitet seit 2007 die SZ-Parlamentsredaktion in Berlin. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen berichtet er über die Personen und Ereignisse im Kanzleramt, den Ministerien, dem Parlament und anderen Orten, wo Politik gemacht wird. Der gebürtige Ulmer lebt seit 1996 in der Hauptstadt, wo er vier Jahre lang für die Berliner Zeitung arbeitete. 2000 kam Fried zur Süddeutschen Zeitung und berichtete aus der Parlamentsredaktion über die deutsche Außenpolitik, die damalige PDS und später über die Grünen. 2004 übernahm er die journalistische Beobachtung der SPD, drei Jahre später die Büroleitung. Nico Fried, geboren 1966, hat in München und Hamburg Politikwissenschaften studiert und mit einem Magister Artium abgeschlossen.

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Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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