Warum eine politische Strategie im Gesundheitsbereich scheitert

Anmerkungen zu der Studie von M. Schrappe, Qualität 2030. Die umfassende Strategie für das Gesundheitswesen,  Berlin 2015

Matthias Schrappes verdienstvolles Werk ist einer Idee verpflichtet: Die Ausrichtung des Gesundheitswesens an einem umfassenden, ganzheitlichen und Ansätze der Prävention und der Lebensführung einzubeziehenden Qualitätsbegriffs. Seine Folge sind quantifizierte und quantifizierbare Leitbilder, definierte Messpunkte und evualuierbare Ergebnissen.
 
Der Gedanke klingt auf den ersten Blick plausibel und stimmig, sind es doch oftmals das Nebeneinander von ambulanter und stationärer Medizin, die unterschiedliche Honorierung, die einer gemeinsamen Ausrichtung der Akteure am Wohle ihrer Patienten entgegenstehen. 
Dahinter liegt der Gedanke eines quasi „interessenslosen“, am Wohle des Einzelnen interessierten Gesundheitswesen. Dieser Wunsch ist gleichermaßen idealistisch wie unreal, deutsch und romantisch. 
 
Wir erkennen das Bemühen um eine bessere Gesundheitsversorgung an, melden aber erhebliche Zweifel an einigen Grundannahmen und die Konsequenzen der vorgeschlagenen Strategien an. 
 

Zentrale Kritikpunkte

Unsere Kritik an den Grundannahmen bezieht sich insbesondere auf folgende Punkte
  • Wissensoziologisch und erkenntnistheoretisch ist der gewählte Ansatz unterkomplex und führt zu einer realitätsinadäquaten Übersimplifizierung des Gesundheitswesens.
  • Versorgungspraktisch führt eine entsprechende Konzeption zwangsläufig zu einem bürokratischen Monster und einem weiteren Verlust verantwortlichem Handelns der Akteure.
Die von M. Schrappe vorgetragene Strategie geht eine falsche Richtung. Ihre Umsetzung, so unsere These, würde zu einer massiven Bürokratisierung, zunehmenden Schlachten auf dem Felde der Studienerstellung und -interpretation führen. Die Nachfrage nach „wissenschaftlichen“ Stellungnahmen würde sprunghaft steigen. Und statt zu konkreten Verbesserungen der Versorgungslandschaft führt ein entsprechender, sicher gut gemeinter Ansatz zu einer Zunahme von papierenden Studienschlachten, juristischen Scharmützeln, Systemblockaden, weiter zunehmender Ohnmacht der im Gesundheitsbereich Tätigen. Statt die medizinische Versorgungspraxis zu verbessern, würden mehr und mehr Ressourcen auf die Abbildung des Versorgungsgeschehens in wissenschaftlichen Studien und wissenschaftlich konzipierten „Versorgungskonzepten“ verwendet, während die Mängel in der praktischen Versorgung mehr und mehr aus dem Blickfeld der Diskussion geraten würde. Die Folge: Ein weiter wachsender Einfluß der gesundheitspolitischen Symbolhändler.
 

Eckdaten eines Gegenentwurfs

Unser Gegenentwurf kann bisher nur skizziert werden. Er verzichtet darauf, einen übergeordneten Begriff einer optimalen Versorgung auf (in diesem Falle) Bundesebene zu etablieren, sondern definiert bestimmte Zuständigkeitsbereiche unterschiedlicher Akteure. Er thematisiert die institutionellen Voraussetzungen für verantwortliches Handeln der Akteure im Gesundheitswesens: Die Übernahme von Verantwortlichkeiten für einzelne Versorgungsfragen, die Verbesserung der Versorgung durch die Institutionen selbst. Und dies aus freiem Antrieb und unter Einsatz eigener Ressourcen und Verantwortlichkeiten. Dies setzt, um damit kommen wir zum Kern der Auseinandersetzung, voraus, dass wir und mit dem Rahmen, der Reichweite und der Ressourcenausstattung der Gesundheitspolitischen Akteure beschäftigen müssen. Das wird insbesondere zu einem erbitterten Widerstand aller im G-BA vertretenen Institutionen führen. Es geht nämlich längst nicht mehr um die Durchsetzung von besseren Erkenntnissen, sondern um die Absicherung von Machtpositionen, der Ausweitung von Legitimität, zu denen das wissenschaftliche Begriffs-, Denk- und Legitimitätssystem gekapert worden ist. Frei nach dem Motto „Sage mir, für wen Du forscht und ich sage mir, was Dein Ergebnis sein wird“. 
 
Der Wunsch der Deutschen, und da könnten Bürger, Politiker und viele Akteure ähnlich empfinden, nach konsensuellen Lösungen, nach friedlicher Übereinkunft, nach Gespräch und harmonischer Entscheidung führt nicht zu mehr Qualität, sondern zu mehr Sitzungen, mehr Gremien, weniger Sachverstand, längerwierigen Entscheidungsverfahren und letztlich zu oftmals justiziabel sicheren, aber medizinisch unsinnigen Entscheidungen. 
 
Was wird dagegen brauchen, ist ein Gesundheitssystem, in der die Kompetenz derer, die täglich an einer guten Medizin arbeiten, gefragt ist, in der Erfahrungswissen zu einem wichtigen Faktor wird, gerade jetzt, wenn sich über Demographie, Technologie und dem zunehmenden Anspruch der Verbraucher, über ihre Gesundheit selbst zu entscheiden, Veränderungen abzeichnen. 
 
Disruptive Veränderungen stehen für das Gesundheitssystem an. Je mehr die „oberen“ Systemakteure daran festhalten, EINE Gesamtsicht und Gesamtlösung herstellen zu können, desto weniger Entscheidungen werden getroffen, desto weniger werden sich die Akteure und Institutionen des Gesundheitswesens auf die kommenden Herausforderungen einstellen können. 
 
Dem Gesundheitswesen fehlt es nicht an wissenschaftlichen Debatten und Kongressen. Im Gegenteil: Gesundheit muss wieder in die Hand derer zurückgegeben werden, die sich tagtäglich mit Patienten, Versicherten und ihren Anliegen beschäftigen. In diesem Sinne plädieren wir hier für eine Rückbesinnung über den Ordnungsrahmen der Gesundheitspolitik, weniger zentrale Planung, mehr Empowerment und Spielräume für die Akteure; – und eine Überprüfung der institutionellen Zustandes. 
 
Uns ist bewußt, dass das Bottom Up Denken, das hier angerissen wird, dem Top-Down Ansatz von M. Schrappe und anderen „Gesundheitsplanern“ diametral entgegensteht. Real ist für sie nur, was erforscht ist. Dabei reduziert sich Gesundheitsforschung zunehmend auf ein Erkenntniskonzept, das Erfahrungskompetenz mißachtet und stattdessen auf ein engmaschiges und aufwandsintensives Systems von Vorgaben und Kontroll-, neudeutsch Evaluationsmaßnahmen setzt. Ein System also, das Gesundheitsforschung dem Wissen und Handeln der Akteure entzieht und einem distanziert agierenden Relevanzsystem übereignet. 
 

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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