Versuch, unsere Gesellschaft als kulturell vermittelte Klassenherrschaft zu beschreiben

Seit einigen Wochen hat mich das Buch von Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen, Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen (1975) gefangen genommen. Der folgende Beitrag versucht, das Konzept der Priesterherrschaft der Intellektuellen als Klassenherrschaft der postmaterialistischen Milieus zu beschreiben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin Teil dieser Klasse. Sie hat durchaus ihre Verdienste und hat bisher zur Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft beigetragen. Aber nur, wenn man frühzeitig die Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung erkennt, kann sie diese Grenzen etwas aufbrechen.

Deshalb, na ja, und auch mit etwas spöttischer Eitelkeit, dieser Beitrag. Und trotz aller Ironie: Er ist vorläufig, ein Debattenbeitrag, aber ernst gemeint.

Vorbemerkung

1) Der Begriff der Klassenherrschaft will nicht denunzieren, sondern untersuchen, wie in einer Gesellschaft, die formal Gleichberechtigung, Teilhabe, neudeutsch Partizipation und den herrschaftsfreien Diskurs als konstituierend definiert, diese Begriffe entgegen ihrem Anspruch und Anschein etwas klassenmäßiges entwickeln. Sie diskriminieren durch bestimmte kulturelle Muster, Sprache, Denkweisen, Verhaltensweisen andere kulturelle Muster, Sprachen, Denkweisen und Verhaltensweisen und schließen diese damit entgegen dem postulierten Anspruch von einer Teilnahme an der Herrschaft aus.

2) Klassenherrschaft beschreibt eine Struktur, sie bedeutet nicht, dass diese Struktur nur negative, unangemessene Ergebnisse zeitigt. Die bürokratische Klasse hat in der chinesischen Gesellschaft beispielsweise über Jahrhunderte und Jahrtausende dazu geführt, dass die Herrschaft über ein so großes Land erst möglich wurde und Formen rationaler Herrschaft und der Informationsgewinnung und -vermittlung erst entwickelt wurden. Hier wird bereits ein Teil der Hypothese sichtbar: Dass wir einer Art „Bürokratischer Herrschaft mit spezifischen kulturellen Mustern“ entgegen gehen.

3) Klassenstrukturen müssen den Akteuren nicht bewußt sein. Damit die Klassenstrukturen akzeptiert werden, müssen sie auch durch „die anderen“ anerkannt und akzeptiert sein. Für diese Akzeptanz kann es unterschiedliche Gründe geben: Das Desinteresse oder Unvermögen, sich entsprechender Ausdrucksformen zu bemächtigen, die Akeptanz des Gesamtsystems, die Akzeptanz der Ergebnisse dieser Herrschaft (Wohlstand, Freiheit, Ungestörtheit, Privatheit), aber auch die Plausibilität des Begründungsmusters, was auch heißen kann, dass die Empörung nicht groß genug ist, diese Plausibilität auf der gesellschaftlichen Bühne, die wiederum eine kulturell definierte ist, in Frage zu stellen. Aufwand und Ertrag scheinen für die potentiell Betroffenen nicht in einem richtigen Verhältnis zu stellen.

4) Klassenstrukturen bilden sich und bilden sich um. Wer in Begriffen und Kategorien denkt und wer unsere Gesellschaft in Begriffen und Kategorien darstellt, dem sollte bewußt sein, dass wir eine Gesellschaft im Umbruch sind. Von unserer Wahrnehmung her denken wir von Generation zu Generation unterschiedlich. Die Begriffe 68er Generation, Generation Golf, Generation Praktikum zeigen bereits, wie schnell hypothetisch formulierte Generationssoziologien definiert werden können. Und jede dieser Soziologien hat das Potential, sich zu einer Klassenstruktur zu wandeln. Denn Klassenstrukturen entstehen aus unterschiedlichen Wurzeln heraus. Sie können lange Zeit nur ein kulturelles Muster sein, bevor sie, nach dem Gang durch die Institutionen oder über eine historische Situation vermittelt, sich plötzlich nicht nur mehr als kulturelles Muster verstehen, sondern dieses kulturelle Muster als Instrument der Klassenherrschaft konstitutieren und etablieren. Auch dieser Prozess muss nicht bewusst sein.

Die Klassenherrschaft der Postmaterialisten.

In Nachfolge der Überlegungen von Helmut Schelsky betrachte ich die Klassenherrschaft der Intellektuellen als Klassenherrschaft der Postmaterialisten. Sie ist definiert durch

* das Muster der Reflexivität als erkenntnispraktische Kulturleistung

* das politisch formulierte Paradigma von Demokratie als herrschaftsfreier Diskurs. Im herrschaftsfreien Diskurs treten die Bürger miteinander ins Gespräch, um die besten Lösungen zu finden. Dieses Gespräch, der Dialog, ist interessenlos definiert und unabhängig von ökonomischen, persönlichen und materiellen Interessen konzipiert

* das Muster von Wissenschaftlichkeit, systemischer Rationalität, der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Deutungsmuster und ihrer Empirie (dem Blick hinter den Vorhang der behaupteten Interessen). In dieser Denktradition kann Wissenschaft, und hier vor allem die entwickelten Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, Gesellschaft begreifen und Entwicklungslinien vorzeichnen.

* die Identifikation über kulturelle Institutionen europäisch-deutscher Hochkultur und ihrer Institutionen, der klassischen Theater, Oper, Operette, klassischer Musik (im Gegensatz beispielsweise zum Musical als „Kultur der Anderen, zugespitzt, des Plebiszitären“).

Die Selbstbeschreibung der herrschenden Klasse

Das ist der Kernbestand gesellschaftlicher Selbstbeschreibung.

Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft. Über die Herrschaftsform der Demokratie müssen wir Macht über unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus ausüben, ihn zähmen, domestizieren. Gerechtigkeit entsteht in unserer Gesellschaft über ein System gesellschaftlicher Institutionen. Diese sind Schulen und Hochschulen, sowie die Institutionen der sozialen Sicherheit: Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung. Die öffentliche Hand hat auch eine öffentliche Infrastruktur für Mobilität, Energie und Grundleistungen der Versorgung, (Wasser, Abwasser, Abfall) bereit zu stellen und aufrecht zu erhalten.

Für die Bereitstellung dieser Leistungen und institutioneller Gewährleistung ist der Staat berechtigt, Steuern und Abgaben zu erheben und einzuziehen.

Für mehr Gerechtigkeit brauchen wir mehr Staat.

Warum auch ein partizipatorischer Anspruch zu Klassenherrschaft führen kann

Ansätze, an denen sich die Verfestigung soziokultureller Identität zu einer Kultur der Klassenherrschaft zeigen:

Das unbedingte Postulat von Wissenschaftlichkeit, intersubjektiver Nachprüfbarkeit und der Notwendigkeit wissenschaftlicher Begründung politischer Handlungsstrategien. Sie führt zu einem formalisiert arbeitenden Wissenschaftssystem, das fast ritualisiert die Beweise für die vorab formulierten Behauptungen und Konstrukte liefert. Inhärent ist diesem politisch instrumentalisierten Wissenschaftssystem, dass sie zu einer Legitimation der Herrschaft, nicht zum streibaren Diskurs und dem konzeptionellen Ringen um die beste Lösung führen (Insofern hat sich Paradigma des kritischen Rationalismus von Popper längst gegen seinen Begründer entwickelt). Wir nennen es ein affirmativ-legitimatorisches Wissenschaftssystem, das seine systemische Eigenstruktur nicht erneuert und (nach der Phase der „Wissenschaft als Elfenbeinturms“) neu begründet hat, sondern im Zuge der 68er Bewegung in den Schlepptau der neuen politisch kulturellen Elite der Postmaterialisten gekommen ist. In der Folge ist Wissenschaft sakrosankt, ökonomische Interessen sind verpönt. Tatsächlich ist es gelungen, unter dem Schutzmantel dieser politisch legitimierten Haltung Erbhöfe und Abhängigkeiten zu schaffen, die feudalistischen Systemen gleichkommen. Die Unvereinbarkeit wissenschaftlicher Karrieren mit einem „normalen“ bürgerlichen Leben, gesicherten Einkommen, Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten. Wissenschaft ist zu einem System weniger Herrscher (C3/C4-Professuren) und einem Heer wissenschaftlicher Knechte und Mägde geworden, von denen einige wenige ebenfalls zu Herrschern aufsteigen dürfen; die europäische Variante der „vom Tellerwäscher zum Millionär“ Perspektive.

Die unbedingte Priorisierung wissenschaftlicher Ausbildung (und ihrer Vorform, dem Zwang zum Abitur in einem ersten Ausbildungsgang) als „Einstiegsvoraussetzung“ für ökonomische und kulturelle Teilhabe. Ohne den Nutzen von Bildung, die die Möglichkeit von Abstraktion, Verallgemeinerung, des Erlernen von Formens des Austauschs und der gegenseitigen Vermittlung und des Diskurses zu negieren, ist die Ablösung des dreigliedrigen Schulsystems durch ein einheitliches Schulsystem, in dem der Abgang als Abiturient die Hochform, der als Realschüler (Mittlerer Schulabschluss) als Kompromiss und der Abgang als Hauptschüler als potentieller Drop Out begriffen wird, eine Verengung, die ein kulturelles Muster zwangsweise zum Selektionsmuster macht und somit Optionen verbaut und nicht ermöglicht.

Die Alternative zu diesem monistischen Schulsystem ist eine Vielfalt schulischer Bildungswege mit einer großen Offenheit für späteres lebenslanges Lernen und die Anerkennung von Erfahrungswissen als andersartigem, aber gleichwertigem Erfahrungsschatz, der einen wesentlichen Beitrag zu gesellschaftlicher Lösungsfindung leisten kann und deshalb als Qualifikation zu gelten hat. In diesen Institutionen dürften dann allerdings nicht bildungsbürgerliche Lehrkräfte jungen Menschen ihnen fremder Kulturen (der deutsche Proll ebenso wie der in zweiter Generation in nur geduldeter, aber ignorierter Subkultur lebende Türke) „Werte“ vermitteln, sondern müssten Menschen aus den unterschiedlichen Kulturen oder mit höher Empathiefähigkeit ausgestattete Menschen Selbstbewusstsein und Werkzeuge zum Bewältigen der Alltagswelt an die Hand geben, um sie zu aktiven Säulen/Trägern unserer Gesellschaft zu machen.

Deshalb ist heute, noch mehr als vor 30 Jahren der Titel „Priesterherrschaft der Intellektuellen“ durchaus gerechtfertigt. „Die Arbeit tun die anderen“, dieser zweite Teil des damaligen Buchtitels beschreibt, worum es geht: Die Eroberung der öffentlichen Bühne, gesellschaftliche Repräsentation, die Spielregeln, um an diesem Repräsentationsspiel teilzunehmen, die Überbewertung aller Professionen, die damit in Verbindung stehen. Die Sozial- und Humanwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften, die der Wissens- und kulturellen Sinnvermittlung (Journalisten, Theater, Kulturwissenchaften gegenüber Ingenieuren, Betriebswirten und bald auch Medizinern, über die ständischen Organisationen finden hier noch Auseinandersetzungen der Vormoderne statt). In allen Fällen ist gesellschaftliche Anerkennung, Macht und Karriere damit verbunden, dass es wichtig ist, „die anderen“ machen zu lassen und selbst, quasi als reflektierter Herrscher, in einem Modus von Sicherheit, finanzieller Absicherung und Risikominimierung die gesamten Prozesse zu steuern. Wir können an dieser Stelle wahrnehmen, dass der bürokratisch-administrative Modus der Steuerung, gepaart mit der eigenen ökonomischen Absicherung, zu einem Herrschaftsmodell geworden ist, das vom öffentlichen Bereich längst auf die Führungsebene globaler Konzerne übergegriffen hat; weshalb die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen längst nicht mehr die zwischen Kapital und Arbeit sind, die über die Politik domestiziert werden müssen, sondern eine Herrschaft öffentlicher Institutionen und globaler Konzerne auf Kosten mittelständischer, dem Wettbewerb auf Gedeih und Verderben ausgesetzter mittelständischer Unternehmen ist.

Der kulturelle Duktus dieser Herrschaftsform lässt sich in der Denkform erkennen. Es geht um Herrschaft über …… Herrschaft über DIE Wirtschaft, über DIE ökonomischen Interessen anstatt um die Debatte, wie das Aushandeln dieser Interessen zwischen Unternehmen und Mitarbeitern möglich ist. Das Paradigma des Dreiecks vom Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, in dem die unterschiedlichen Akteure unterschiedliche Aufgaben wahrnehmen und in dem es nicht mehr sein kann, dass Interessen, nur weil es Unternehmensinteressen sind, als Lobbyistische Interessen stigmatisiert werden und im Gegenzug jegliche Artikulation der „Zivilgesellschaft“, die zumeist die Artikulation der bildungsbürgerlichen Mittelschichten ist, als „sakrosankt“ betrachtet wird. Die Verklärung des „Wutbürgers“ zu einem Bürger mit Partizipationsinteresse (was Interesse am Aushandeln von Lösungen beinhaltet) ist eine dieser Verzerrungen, die infolge dieser Wahrnehmung auftreten. Sie verkennen das Bedürfnis nach Meinungsäußerung, Repräsentation im öffentlichen Meinungsbild und verwechseln es mit einem Partizipationsinteresse. Die meisten Menschen meinen, Wichtigeres zu tun zu haben. Und das ist ok so!

Worin die Erklärungskraft dieser Argumentationsfigur für den aktuell blutleeren Wahlkampf liegt

In der Reproduktion dieses falschen Gesellschaftsbildes liegt, These, auch das Desinteresse an dem aktuellen wahlkämpfenden Geschehen. Niemand außerhalb der Politik glaubt mehr die Inszenierung des Lagerwahlkampfes. Die rotgrünen Repräsentanten des „Unten“ mit ihrem umverteilenden Gesellschaftsbild verkennen, dass sie bei denen, zu deren Gunsten sie die Umverteilung vornehmen (90 Prozent), längst ihre Glaubwürdigkeit verspielt haben. Weil sie ihnen, im Falle Grüne, längst fremd geworden sind (es ist halt eine Partei der Bürgerlichkeit plus einiger Aufsteiger) wie auch die Sozialdemokratie, die sich durch die unglaubwürdige Repräsentationsleistung (Der Wahlkampfsteinbrück ist nicht der Steinbrück, den die bürgerliche Mitte zuvor gut fand. Und der Wahlkampfsteinbrück ist als kulturelles Muster dem Modernisierungsverlierersozialdemokraten sehr viel fremder als eine scheinbar biedere, aber kulturell anschlussfähige Merkel) tagtäglich ins Aus schießt. Noch zurück zu den Grünen: Die Links-Strategie ist deshalb verheerend, weil sie Menschen, die in den Grünen die Partei sahen, die besser zuhören kann, aufmerksam und wach gegenüber der Vielfalt unserer Gesellschaft ist und deshalb die besseren Lösungen zustande bringen könnte, in dieses alte, längst unbrauchbar gewordene Rechts-Links Schema und den Glauben an einen heilsbringenden Staat zurück fällt.

Die Chance zu hegemonialer Wirkung ist, zumindest für diese Wahl, vertan. Ob sie für eine weitere Wahl wieder zu aktivieren ist, bleibt abzuwarten.

Die Ironie der Geschichte ist, dass die CDU, die in ihrem jungen treibenden Teil der Bundestagskandidatinnen und -kandidaten der Postmaterialistenklasse viel näher ist als sie selber glaubt, sich spätestens mit diesem Wahlkampf auf das historisch überkommende Muster des umverteilenden Staates einlässt und somit zum Teil dieses Problems anstatt zum Teil der Lösung wird. Die Chance auf eine neue Kontroversen- und mögliche Lagerbildung, Voraussetzung für gesellschaftliche Debattenfähigkeit, wird damit ebenfalls vertan.

P.S. Argumente sind dazu da, um widerlegt oder relativiert zu werden. Darin liegt der Erkenntnisfortschritt.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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