Politik kann. Sozialforscher Wolfgang Streeck zu Politik und dem Rahmen (WON02)

Wenn die Politiker wieder die Backen aufblasen, jetzt vor der Wahl, und darüber reden, was sie uns alles Gutes tun wollen, tut ein differenzierter Blick Not. Wolfgang Strreeck ist Sozialforscher am Max-Plank-Institut und reflektiert die vergangenen dreißig Jahre Sozialstaat, Weltwirtschaft und die aktuelle Situation. Wenn man das liest, stellt man fest: Sehr viel anregender als die ganzen Wahlsprechblasen. …

Heute in der FAS

SONNTAG, 11. AUGUST 2013
WIRTSCHAFT
„Die Einigung Europas ist dramatisch gescheitert“
Der Sozialforscher Wolfgang Streeck über die Renditegier der Kapitalisten, linke Euro-Träumer und warum die Märkte immer versagen
Herr Streeck, seit Jahrzehnten analysieren Sie als Soziologe den Kapitalismus. Was ist Ihre liebste Phase?

In den sechziger und frühen siebziger Jahren blickte man mit einem Optimismus in die Zukunft, der heute unvorstellbar ist. Man konnte mit John Maynard Keynes als dem großen Theoretiker dieser Zeit glauben, dass Umverteilung von Lebenschancen von oben nach unten das Leben der Menschen verbessern und zum Wirtschaftswachstum beitragen kann.

Aber schon damals glaubten die linken Soziologen, der Kapitalismus stehe kurz vor dem Zusammenbruch.

Deren Vorstellung war: Der Kapitalismus würde die Fortschrittserwartungen nicht befriedigen können, von deren Erfüllung seine Legitimität abzuhängen schien. Damals diskutierte man bis in die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften hinein, ob das Ziel die Befreiung in der Arbeit oder von der Arbeit sein sollte. Eins von beiden aber auf jeden Fall.

Immer in der Annahme, grenzenloses Wirtschaftswachstum werde das von selbst finanzieren?

In der Annahme, dass man die kapitalistische Wirtschaft gezähmt und sie in eine steuerbare Wohlstandsmaschine verwandelt habe. Deshalb erschien es legitim und völlig rational, dass die Politik die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ ausreizen sollte, um einen SPD-Politiker zu zitieren. Wozu war die Wirtschaft sonst da, wenn nicht zur Ermöglichung eines besseren Lebens für alle? Man glaubte, die kapitalistischen Tiger zu Milchkühen gemacht zu haben. Wenig später stellte sich heraus: Den Tigern gefiel es in den Ställen nicht mehr.

Der Verteilungsspielraum wurde enger, weil die Sonderkonjunktur der Nachkriegszeit zu Ende ging.

So einfach ist das nicht. Die Renditeerwartungen des Kapitals konnten in der alten Welt der steigenden, wenn man so will: Lebens-Erwartungen nicht mehr befriedigt werden. Es begann ein langer Verteilungskampf. Seit Mitte der siebziger Jahre wuchs die Ungleichheit in allen westlichen Ländern langsam, aber stetig.

Aber die Sozialausgaben wuchsen auch und damit die Staatshaushalte.

Als Erstes nahm die Arbeitslosigkeit zu, und als Folge stiegen die Sozialausgaben. Davon geht es aber niemandem besser. In Amerika sind die Reallöhne seit der damaligen Zeit nicht mehr gestiegen und die Familieneinkommen nur deshalb, weil in Reaktion darauf auch die Frauen in den Arbeitsmarkt eintraten.

Darin sehen Sie überhaupt keinen Fortschritt?

Was heißt Fortschritt? Die Propaganda behauptet, die Verkäuferin bei Lidl habe eine „Karriere“. Das ist natürlich Unsinn. Andererseits wussten schon die Marxisten des 19. Jahrhunderts, dass die Einbeziehung in die Geldwirtschaft zugleich befreit und fesselt. In einer Welt, in der Geld die Voraussetzung für persönliche Autonomie ist, bedeutet ein eigenes Einkommen einen Freiheitsgewinn. Gleichzeitig tritt wirtschaftlicher Zwang an die Stelle des in vormodernen Ordnungen herrschenden sozialen Zwangs. Damit setzt ein neuer Konflikt ein, es stellen sich neue Macht- und Organisationsfragen.

Wenn Sie die Entwicklung so negativ sehen: Haben Sie eine Lösung?

Während sich die keynesianische Nachkriegsordnung allmählich auflöste, also seit das Kapital aus seinem Nutztierkäfig ausgebrochen ist, haben die Staaten verschiedene Möglichkeiten ausprobiert. Es begann mit der Inflation der siebziger Jahre, die von der Staatsverschuldung der achtziger und neunziger Jahre abgelöst wurde. Als die an Grenzen stieß, wurde in vielen Ländern das private Schuldenmachen erleichtert, als Ersatz für das staatliche Schuldenmachen und die ausbleibenden Einkommenszuwächse. Keine dieser Lösungen war mehr als ein zeitweiliger Notbehelf.

Also haben SPD und Grüne recht: Wir müssen einfach nur kräftig die Steuern erhöhen?

Damit ließe sich vielleicht die Fiskalkrise beheben und der dringende öffentliche Investitionsbedarf befriedigen. Ein erheblicher Teil der heutigen Staatsverschuldung ist in der Tat darauf zurückzuführen, dass der Steuerwiderstand nach dem Ende der Inflation gewachsen ist und in einer globalen Wirtschaft neue Möglichkeiten der Steuervermeidung gegeben sind. Andererseits müssen die Normalbürger entfallende öffentliche Dienstleistungen selbst bezahlen, wenn zugleich staatliche Leistungen privatisiert werden. Sie müssen Zusatzrenten abschließen, weil sie für ihre Sozialbeträge später weniger zurückbekommen. Sie arbeiten mehr bei stagnierenden Einkommen. Und dann sollen sie auch noch mehr Steuern zahlen?

Zahlen wir mit den stagnierenden Einkommen bei uns den Preis für den Aufstieg von Chinesen oder Brasilianern, die mit Macht auf den Weltmarkt drängen und ihren eigenen Wohlstand steigern?

Welche Chinesen und Brasilianer? Alle, oder doch nur ein paar? Das Verteilungsproblem geht ja nicht weg. Dass Landwirtschaft durch Fabrikarbeit ersetzt wird und Naturalwirtschaft durch Geldwirtschaft, ist nur der erste Schritt. Der nächste und ebenso wichtige ist die politische Organisierung und Gestaltung der entstehenden Industriegesellschaft – durch den Aufbau neuer Systeme sozialer Absicherung und gesellschaftlicher Solidarität. Im England des 19. Jahrhunderts ist es ja auch nicht bei den Fabrikhöllen von Manchester geblieben, wie Engels sie beschrieben hat, dank der Gegenbewegungen von Sozialisten und Gewerkschaften.

Eine ähnliche Hoffnung war auch die Grundidee der europäischen Einigung: Über den Weg der ökonomischen Integration sollte peu à peu der politische und soziale Zusammenhalt geschaffen werden.

Das ist dramatisch gescheitert. In den neunziger Jahren ging es in Brüssel um die sogenannte „soziale Dimension“ der europäischen Integration. Jacques Delors glaubte, dass der europäische Sozialstaat unvermeidlich auf den Binnenmarkt folgen würde. Oder er sagte es wenigstens. Die Gewerkschaften haben ihm das abgenommen. Aber im Ergebnis ließen sich nur die vier Marktfreiheiten durchsetzen.

Könnten die Nationalstaaten besser den Sozialstaat verteidigen?

Da bin ich nicht sicher. In den letzten zwanzig Jahren konnten weder die Nationalstaaten den Sozialstaat retten, noch konnte man ihn auf europäischer Ebene aufbauen. Das ist das Problem: Dass man auf supranationaler Ebene nicht das zu ersetzen vermag, was auf nationaler Ebene verlorengeht.

Viele linke Intellektuelle leiten daraus die Konsequenz ab, umso nachdrücklicher für einen europäischen Sozialstaat zu kämpfen.

Gegen dreißig Jahre Erfahrung. Dazu gehört schon ein gewisser Heroismus.

Sie halten den Euro für einen Fehler?

Der Euro hat eine starke neoliberale Schlagseite. Wenn man die Abwertung einer nationalen Währung ausschließt, führt man praktisch einen internationalen Goldstandard ein. Damit wurden demokratische Regierungen der Möglichkeit beraubt, die „Wettbewerbsfähigkeit“ ihrer Länder durch politischen Eingriff in das „freie Spiel der Marktkräfte“ zu verteidigen. Jetzt bleibt ihnen nur noch die Möglichkeit der inneren Abwertung, in Form einer Verschlechterung von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Die Politik wird ausgeschaltet oder auf die Durchsetzung der „Marktgesetze“ reduziert. Dabei sind die kleinen Leute immer die Verlierer.

Dass der Euro ein neoliberales Projekt sein soll, leuchtet nicht ein. Die meisten liberalen Ökonomen haben doch davor gewarnt?

Historisch gab es die unterschiedlichsten Motive. Die Deutschen wollten ihre Autos zu festen Wechselkursen im Süden verkaufen. Die Franzosen dachten, sie könnten das harte deutsche Währungsregime aufweichen. Die Südländer hofften auf niedrigere Zinsen. Die Neoliberalen, in Italien etwa um die Banca d’Italia und die Mailänder Wirtschaftsuniversität Bocconi, wollten mit Hilfe des Euro die Märkte entpolitisieren und die nationale Politik der Konzessionen beenden, vor allem gegenüber den Gewerkschaften. Für sie sollte der Euro die Staaten zu sogenannten Strukturreformen zwingen, indem er ihnen die Abwertung als sozusagen unsaubere Marktkorrektur versperrte. Manche deutsche Ökonomen um die Bundesbank herum glaubten nicht, dass das gelingen könnte. Sie waren dagegen.

Was empfehlen Sie zur Rettung aus der Krise?

Es gibt Probleme, aus denen es keinen Ausweg gibt. Die bekannten Reparaturvorschläge funktionieren alle nicht, weil weder die innere Abwertung im Süden durchsetzbar ist noch die für den Zusammenhalt der Währungsunion unabdingbaren Transferzahlungen aus dem Norden durchsetzbar sind.

Also hinaus aus der Währungsunion, wie es die Alternative für Deutschland (AfD) empfiehlt?

Diese Leute sind auf jeden Fall realistischer als unsere Mainstream-Ökonomen, die glauben, sie könnten im Süden ein nördliches Zwangsregime zur Haushaltskonsolidierung und Marktdurchsetzung errichten – unter Ausschaltung der dortigen Politik und Bürokratie. Die AfD sieht, wie teuer die Währungsunion für Länder wie Deutschland werden kann, und will den Preis nicht bezahlen. Mir geht es darum, dass wir den Südländern ersparen sollten, unter unserer Oberaufsicht jahrzehntelang durch die neoliberale Reformmangel gedreht zu werden, mit katastrophalen Folgen für das Verhältnis zwischen den europäischen Völkern.

Bei der Abschaffung des Euro gehen Sie mit?

Es wäre ein Segen, wenn man wenigstens ein Mindestmaß an regulierter Flexibilität in die Währungsrelationen zwischen den europäischen Volkswirtschaften einbauen könnte, verbunden mit intelligenten Kapitalverkehrskontrollen. Es würde im Übrigen auch bei der Modernisierung der südlichen Volkswirtschaften helfen, weil Währungsabwertungen den Übergang strecken und damit erleichtern können. Mir persönlich wären auch die verteilungspolitischen Folgen von mehr Flexibilität sympathisch. Die Mittelschicht im Süden würde leiden, weil sie sich dann nur noch einen Fiat leisten könnte. Aber dem Fiat-Arbeiter wäre für eine Weile geholfen.

Sie sind ein linker Dissident. Die meisten Linken, die Europa früher als neoliberales Projekt kritisierten, fordern seit der Krise mehr Integration.

Wollen wir mal sehen, wie lange noch. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht mittlerweile bei den Euro-Fundamentalisten ausgetreten sind, mit sehr guten Argumenten.

Wenn Sie, Lafontaine und Wagenknecht recht haben, warum sind dann die meisten Linken heute für den Euro?

Die deutschen Keynesianer sind im Herzen IG-Metaller, und die deutschen Metallarbeiter profitieren nun mal sehr stark vom Euro. Bei den Dienstleistern von Verdi könnte das schon bald skeptischer gesehen werden. In Form der Euro-Rettung und späterer laufender Ausgleichszahlungen aller Art zahlen wir den Eintrittspreis für unsere Exporte in die südeuropäischen Märkte. Aufbringen müssen ihn schließlich alle Steuerzahler, bei zunehmend degressiver Besteuerung. Dann bezahlt die Putzfrau für die gut bezahlten Jobs bei Daimler, die aber trotzdem immer weniger werden – siehe die wachsende Zahl von Leiharbeitern in den Automobilfabriken.

Sie reden so, als ob Sie in Ihren langen Jahren als Soziologe des Kapitalismus sehr viel pessimistischer geworden sind?

Mein Schlüsselerlebnis war, wie in der Finanzkrise 2008 plötzlich nichts mehr sicher war: Staaten, Sozialsysteme, Währungen. In den achtziger Jahren ging die Hoffnung auf die Steuerungsfähigkeit der Politik auch bei denen verloren, die gegen die linken Krisentheorien an ihr festgehalten hatten. Dazu habe auch ich gehört. Anschließend ist uns versichert worden, das sei nicht schlimm, weil sich die Märkte ja selbst regulierten. Das habe ich nie geglaubt. Aber wenn fast alle anderen daran glaubten, was sollte man machen? Dann versagten die Märkte, und keiner kann sagen, warum sie das nicht schon bald wieder tun sollten. Oder worauf wir uns nach dem Ende der Steuerungs- und der Selbststeuerungseuphorie noch verlassen können. Da wird es doch erlaubt sein, dass man sich manchmal etwas unwohl fühlt.

Das Gespräch führten Ralph Bollmann und Rainer Hank.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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