Germany next Top-Problem. Migration. Und wir Deutschen damit umgehen. Eine Zwischenbilanz

Ist Multikulti, wie der Neuköllner Bürgermeister Buschkowski behauptet, gescheitert? Wir wissen es nicht. Schon deshalb nicht, weil niemand genaue Vorstellungen von „Multikulti“ hat. Außer, gerne bei Griechen zu essen und beim Türken einzukaufen.

Deutschland führt wieder einmal eine sonntägliche Gespensterdebatte. Rituelles Einschlagen auf einen imaginären Gegner, DIE MIGRANTEN. Die deutschen Vormünder wissen, was für „IHRE“ Migranten besser ist. Anstatt einfach einmal die Klappe zu halten, zuzuhören und die Welt aus der Sicht der Einwanderer zu verstehen.

Als der rbb vor eineinhalb Jahren beschlossen hat, radiomultikulti zuzunageln, habe ich spontan beschlossen, dagegen etwas zu tun. Gemeinsam mit einigen anderen haben wir den Freundeskreis radiomultikulti gegründet. Zwar ist es nicht gelungen, diese Entscheidung rückgegängig zu machen,.aber ich habe dabei jede Menge neue Erfahrungen gemacht. Und eine ganze Reihe neue Freunde gefunden.

Meine Zwischenbilanz achtzehn Monate später: Deutschland braucht eine mediale Plattform, auf der die hier lebenden Minderheiten sich austauschen können. Denn was Einwanderungsgesellschaft bedeutet, ist weder im mehrheitsdeutschen Kopf, noch im Bauch angekommen. Einige Erkenntnisse:

Erkenntnis 1, eigentlich banal: Es gibt nicht „die Migranten“, es gibt Menschen mit Migrationshintergrund. Sie sind sehr verschieden, in kultureller, sozialer und religiöser Hinsicht. Was verbindet die kurdischen oder iranischen Intelektuellen mit den Arbeitsemigranten aus Anatolien, Griechenland, Italien, Spanien oder Portugal? Nur die Erfahrung, nicht „drinnen“, sondern draußen zu sein. Die zahlreichen iranischen Intellektuellen, die ihr Geld als Taxifahrer verdienen, sind dafür nur ein Beispiel. Und die Situation erinnert mich an die Nach-achtundsechziger Zeit. Damals musste man ständig darüber reden, das Gewaltmonopol des Staates anzuerkennen. Heute muss man sich gegen Kopftuch und für Sprachunterricht aussprechen. Nicht, dass diese für sich genommen, falsch oder richtig wären. Sie sind aber keine Argumente, sondern Eintrittskarten. Erst wenn diese Unterwerfung vollzogen ist, wird –eventuell- hingehört.

Erkenntnis 2, für mich verblüffend: Das postnationalsozialistische Deutschland ist rassistischer als man denkt. Aber dessen ist sich niemand bewusst. Seit eineinhalb Jahren sehe ich mich aufmerksamer um, wenn ich auf Empfänge oder politische Termine gehe. Und es stimmt: Oben, in der Sphäre der Macht, ist Deutschland noch immer rein weiß. Selbst bei einem Empfang für den „langen Atem“, bei dem Berliner Journalisten für nachhaltig kritische Berichterstattung ausgezeichnet werden, sind die Anwesende, an einer Hand abzählbare Ausnahmen abgesehen, rein weiß. Ich neige nicht zu der Ansicht, die Deutschen wären offen rassistisch (von ungebildeten Minderheiten, die sich in Ihrer Stellung durch Einwanderer bedroht fühlen, mal abgesehen). Aber die Deutschen sind in ihrem Verhältnis zu Einwanderern, sagen wir einfach einmal, gestört. Der grammatikalisch richtige Satz ist ein Selektionskriterium, wenn jemand mit Akzent spricht, wird er oder sie schnell ein-, um- und dann aussortiert. Und unser Schulsystem hat Selektion, nicht Chance, als Überschrift. Bourdieu lässt grüßen.

Erkenntnis 3: Über Migration reden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nur die Biodeutschen. Wenn es eine Auseinandersetzung gibt, gibt, zum Beispiel zum Beispiel um Sarrazin oder Buschkowski, dann tauschen zwei Biodeutsche sich darüber aus, wie „Die Migranten“ denn so sind. Ein bisschen ist das, wie wenn Verhaltensforscher im Zoo darüber forschen, wie sich die Tiere denn verhalten. Man ist aufmerksam, aber fremd. Und deshalb ist das Ganze auch eine Scheindebatte. Etwa wie die Diskussionen auf der griechischen Polis, auf der sich die Demokraten Griechenlands, alle gut situiert, über die Frage der Menschen- und Bürgerrechte Gedanken gemacht haben. Gedanken! Weil die Arbeit, zum Beispiel im Obst- und Gemüsehandel, die machen die Anderen.

Erkenntnis 4: Wenn Menschen mit Migrationshintergrund auf die mediale Bühne gezerrt werden, dann meistens dann, wenn sich ihre Position gut gegen die Mehrheitskulturen der ethnischen Minderheiten instrumentalisieren lassen. Wenn eine Seyran Ates gegen Kopftücher ficht und für die sexuelle Selbstbestimmung der türkischen Frau, ist das ihr gutes Recht. Aber die mediale Aufmerksamkeit, die sie genießt, resultiert daraus, dass sie gut instrumentalisierbar ist. Frei nach dem Motto: Wir haben schon recht, wenn wir Euch diskrimieren. Das seht ihr doch selber auch so.

Erkenntnis 5: Wer in die Medien guckt, sieht stets dieselben deutschen Migrationsforscher, die ihre Erkenntnisse darlegen. Die müssen nicht falsch sein. Aber wir erinnern uns an die Gleichberechtigung der Frau: Welcher Gleichstellungsbeauftragte (Mann) hätte in den Medien eine Chance? Betroffenheit ist nicht alles. Aber ohne Betroffenheit ist alles fast nichts. Denn in Sachen Migration und Integration geht es nicht um abstrakte Erkenntnisse. Sondern darum, dass sich verschiedene Öffentlichkeiten, hier die biodeutsche Mehrheitsgesellschaft, dort die zahlreichen und sehr heterogenen ethnisch-kulturellen Minderheitskulturen in Beziehung setzen, das Zusammenleben aushandeln, diskutieren, streiten, sich manchmal zerstreiten. Aber auch wieder zusammen finden. Denn auch hier gilt: Wir sitzen in einem Boot. Und diejenigen, die morgen noch rudern können, denen haben wir es verwehrt, Ruderunterricht zu nehmen. Weil wir unsere Lehrmethoden deshalb umstellen müssten. Und da waren wir zumindest zu bequem.

Erkenntnis 6: Es ist eine Frage der Ehre. Oder des Respektes. Ich gebe zu, auch ich habe eine Neigung zur Grenzverletzung. Der Tabubruch ist noch immer ein bewährtes Mittel, um sich in die medialen Schlagzeilen zu bringen. Das versteht Sarrazin. Und deshalb rudert er auch wenige Tage nach dem Rummel zurück. Weil er weiß, der Tabubruch wirkt auch, wenn er sich dafür entschuldigt (Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen, lautet so ein Deutsches Sprichwort, das mir sofort in den Sinn kommt. Ich weiß, das ist rassistisch. Aber wieso kommen mir, einem Zweiundfünfzigjährigen, der in einem Nicht-Nazi-Haushalt aufgewachsen ist, eigentlich solche Begriffe und Sprichwörter hoch?).

Aber wie wirkt der Tabubruch eigentlich auf diejenigen, auf dessen Rücken – und für migrationspolitische Fragen bedeutet das, in jedem Fall ist er Objekt, nicht Subjekt- ausgetragen wird. Auf diejenigen, deren Lebensleistung, einen Obst- und Gemüsehandel zu führen (und viele davon sind erfolgreich), abfällig abgetan wird, als wäre es nichts. Wie wirkt das auf meinen Vermieter, der im S-Klasse Mercedes vorfährt? Und wie auf meinen Gemüsehändler, der mit seinem Porsche Cheyenne zeigt, dass er etwas erreicht hat. Wir wirkt das auf die vielen Menschen mit Migrationshintergrund, die keine Alternative haben, als ihren Weg zu finden. Deren Anstrengung, im Durcheinander kultureller Leitbilder, der Entfremdung von ihren Kindern, einen Ihnen und ihren Kindern entsprechenden Weg zu finden, nicht gewürdigt werden. Die, wenn sie Kopftuch oder Vollbart tragen, einem systematischen Terrorverdacht ausgeliefert sind oder die sich bei Anpassung in Luft auflösen?

Erkenntnis 7: Eine gute marxistische Grundbildung hilft auch, Diskussionen einzuordnen: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Denn es stellt sich die Frage, warum sich eigentlich Menschen mit Migrationshintergrund an dieser Diskussion so wenig beteiligen. Denn es gibt eine Reihe von Menschen, die trotz aller Mühsal die Hürden des deutschen Bildungs- und Hochschulsystems gut geschultert haben. Eine gute Freundin, die beruflich und biographisch ihre Erfahrungen gesammelt hat und deshalb zum durchaus begründeten Zorn neigt, führt mir immer an, das wäre doch ganz klar: Weil die meisten Menschen mit Migrationshintergrund, die sich an solchen Diskussionen beteiligen würden, immer vor dem Problem stehen würden, dass ihnen, selbst mit guter Bildung, immer wieder Steine in den Weg gelegt wurde. Neulich bin ich mit einem etwa 45 jährigen studierten Türken nach einer Sitzung nach Hause gefahren. Seit etwas 10 Jahren ist er in Deutschland über Maßnahmen der Agentur der Arbeit beschäftigt. Mal als ABM-Kraft und dann in immer wechselnd benannten Programmen, die immer eines ausgezeichnet hat: Es gab immer weniger Geld. 10 Jahre systematischer Behinderung eines Menschen, dessen türkischer Abschluss hier nicht anerkannt, dessen Begabungen nicht genutzt werden. Aber, das wird ihm sein stets fortgebildeter Berater auf dem Arbeitsamt schon erklärt haben, der sich dem deutschen Arbeitsmarkt schon zur Verfügung halten müsste. Als Servicekraft, als Putzkraft, als postindustrielle Reservearmee. Wer einen ethnischen Sozialismus nicht will, der tut gut, die Kritik der politischen Ökonomie ernst zu nehmen.

Mein Zwischenfazit: Es riecht nach Konflikt in Deutschland. Wenn man sich nicht endlich daran macht, die Probleme wirklich anzugehen.

Während oben noch von Integration gesäuselt wird, nimmt das „unten“ schon niemand mehr war. Die abgehängten Deutschen nicht, weil sie gelernt haben, dass ihnen mit jeder Reform nur weiter das Wasser abgegraben wird, dass sie totverwaltet werden. Und die Menschen mit Migrationshintergrund nicht, weil sie im Alltag erleben, das keine der Sonntagsreden zu großen Veränderungen geführt hat. In einer Diskussion mit meiner zornigen Bekannten hat diese auf meine Einlassung, es wäre doch schon etwas, wenn die CDU und die Konvervativen nach 40 Jahren immerhin begriffen hätte, dass sie Menschen mit Migrationshintergrund nicht einfach nach Hause schicken könnten, weil die Heimat hier ist. Ihre Antwort war: Für vierzig Jahre Lernarbeit wäre das ganz schön wenig. Und damit hat sie recht!

In einem Gespräch mit einer guten Bekannten, einer türkischstämmigen Sozialarbeiterin mit viel praktischer Erfahrungen und einer gesunden, selbstbewußten Meinung zu diesem Thema, meinte diese: Weißt du, ich bin gegenüber allen diesen großen politischen Debatten ziemlich skeptisch. Es geht darum, solche ideologischen Debatten zu vermeiden und den Menschen die Möglichkeit zu geben, die anderen Menschen in ihrer Nachbarschaft kennen zu lernen, ihnen zu begegnen. Es geht um die nächsten konkreten Schritte. Da hat sie Recht.

Aber diese Schritte können wir, die Deutschen aller Wurzeln, die Alt und die Neudeutschen, nur gemeinsam machen. Das ist nicht idyllisch, das wird nicht nur schön, da wird es auch Streit und Diskussionen geben. Aber was zählt, sind die Fortschritte im Alltag. Und dass Lösungen endlich nicht mehr „für die Migranten“, sondern mit Ihnen gefunden werden. Dass wir uns trauen, Fehler zu machen, weil wir dadurch mehr erreichen, als wenn wir die ewige Salondiskussion über Multikulti, Integration und transkulturelle Gesellschaft weiter führen. Und, soviel zum Thema „Fressen und Moral“, dass dazu auch die Mittel vorhanden sind, um dem drohenden Abrutschen ganzer Viertel (und da könnte Berlin wegweisend sein) etwas entgegen zu setzen.

Ich komme zurück zu dem Radioprojekt multicult 2.0. Rückblickend kann man radiomultikulti viel vorwerfen. Man kann sagen, dass das Projekt zu gutmütig war. Man kann, von anderer Seite aus einwenden, dass das kein Wunder ist, weil das ja schließlich ein von einer deutschen Chefredakteurin geführtes Projekt war. Mein Petitum ist, dass wir einen medialen Ort brauchen, an dem migrantische, postmigrantische, multikulti- und interkulturelle Perspektiven sichtbar, hörbar und diskutierbar werden. An dem Auseinandersetzung und Austausch vor Konsensbildung geht. An dem so etwas wie eine transkulturelle oder neudeutsche Identität entsteht. Ein avantgardistisches Projekt, weil es dafür keine Vorbilder gibt. Ein Projekt, in dem die Minderheiten das Sagen haben, und migrantische Positionen auch von Biodeutschen wahrgenommen werden, sie lernen und Menschen kennen lernen können. Eine Plattform, auf die Diskussion über Deutschland 2050 geführt wird. Eine Plattform, die in Respekt vor der Lebensleistung der Menschen, die als Einwanderer vor 40, 30 oder zwanzig Jahren das Deutschland von heute und von morgen prägen, Gehör finden. Eine Plattform für das ganze Berlin, das ganze Brandenburg und das ganze konfliktreich bunte Deutschland. Eine Plattform, die neugierig macht. Eine Plattform, wie multicult 2.0, die vom Engagement einiger Journalisten und ihrer Hörer und Nutzer lebt.

Nicht als Kampf gegen Buschkowski oder gegen Dagmar Reim. Sondern als Möglichkeit, Meinungen von Menschen aus Minderheitskulturen kennen zu lernen. Zu diskutieren, zu streiten, Fehler zu machen. Und miteinander zu lernen.

Irren ist menschlich. Aber aus der Fehlerforschung wissen wir, dass man besser lernt, wenn man einen Fehler macht und diesen korrigiert, als wenn man gleich alles richtig macht. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Wenn das nicht mal ne gute Botschaft ist.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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