Dachau und die Kanzlerin (WON08)

Die Souveränität der Kanzlerin ist nach wie vor das stärkste Pfund der Regierung. Oder gar das Einzige? Beeindruckend, mit welcher Haltung sie diese Gradwanderungen nimmt. Beschämend die reflexhaftem Reaktionen. Es bleibt die Frage, warum die Kanzlerin, anders als alle anderen, so unbeeindruckt von der Selbstbesoffenheit der Politik ist. Die ganze Geschichte:

Süddeutsche, Die Seite Drei, 22.08.2013

Deutschland

Nur zur Erinnerung
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Von Nico Fried

Dachau – Sieben Minuten dauert die Fahrt vom Damals ins Heute. Raus durch ein Tor im Osten, die Alte Römerstraße runter, dann rechts in die Schleißheimer Straße, unter den Bahngleisen durch und weiter zur Ludwig-Thoma-Wiese im Zentrum von Dachau. Sieben Minuten durch sieben Jahrzehnte. Eben hat Angela Merkel noch über das Gelände des Konzentrationslagers geblickt, in dessen Baracken die Nazis in den letzten Monaten des Krieges bis zu 1800 Häftlinge pro Wohnblock pferchten, obwohl sie nur für 200 ausgelegt waren. Jetzt erreicht die Kolonne der Bundeskanzlerin den Volksfestplatz, in dessen Bierzelt sich schon 3000 Menschen drängen. Und noch viel mehr hätten reingewollt.

Merkel steigt aus dem Wagen und blickt sich um. „Wo ist die Gerda?“, sagt sie und sucht nach Gerda Hasselfeldt, der lokalen Bundestagsabgeordneten von der CSU. Sie steht gleich neben ihr. „So, auf wen warten wir noch?“, fragt Merkel. Auf niemanden mehr, also los. Die Kanzlerin stellt sich kurz für ein Erinnerungsfoto mit den Helfern vom Roten Kreuz auf, verscheucht einen Journalisten mit den Worten: „Und Sie gehen mal aus dem Bild!“, dann wendet sie sich dem Eingang des Zeltes zu, aus dem schon Marschmusik schallt und in dem sie gleich dafür werben will, dass sie auch künftig Kanzlerin bleibt. Merkel ist wie immer. Jedenfalls wirkt sie so.

Was ist in diesen sieben Minuten passiert? Der tiefe Schmerz der Opfer wie der Überlebenden halle ein Leben lang nach und bleibe „mit seinen steinernen Zeugen verbunden“, hat Merkel vorhin selbst in ihrer kurzen Rede auf dem ehemaligen Lagergelände gesagt. Deshalb erreichten Gedenkstätten wie Dachau „neben dem Verstand auch die Gefühle der Besucher“. Wenn das stimmt, wie lange hallt dieser Schmerz dann in der Besucherin Angela Merkel nach? Und was ist mit den Gefühlen? Was macht sie damit, die Bundeskanzlerin und Wahlkämpferin?

Hasselfeldt trug vorhin eine lange schwarze Jacke, jetzt hat sie eine grüne an. Merkel im dunklen, leicht schimmernden Anzug, hat sich nicht umgezogen. Wenn die Redensart stimmt, dass einem eine seelische Belastung in den Kleidern hängen bleibt, nimmt die Kanzlerin sie mit ins Zelt.

Eineinhalb Stunden zuvor. Der Hubschrauber, der Merkel nach Dachau bringt, knattert von Norden her am Gelände entlang, dreht nach rechts ab und landet auf einem Flugplatz der Polizei. Die Kanzlerin kommt aus Erlangen, wo sie auch schon als Wahlkämpferin unterwegs war. Wenig später, auf dem KZ-Gelände, sieht man sie erst einmal nur aus der Entfernung. Vorsichtig setzt sie die ersten Schritte auf den Kies, kein ungefährlicher Untergrund für Politiker unter scharfer Beobachtung.

So ein Besuch auf historischem Boden ist immer ein Ereignis. Merkels Besuch erhält dadurch besondere Bedeutung, dass noch kein Bundeskanzler vor ihr in der Gedenkstätte Dachau war. Und noch mehr Aufmerksamkeit erfährt er, weil der für gut eine Stunde geplante Aufenthalt zwischen zwei Wahlkampfterminen liegt. Ja, darf sie das denn? Renate Künast, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, hat Merkels Anreise nach Dachau mit den Worten begleitet: „Wer es ernst mit dem Gedenken an einem solchen Ort des Grauens meint, der macht einen solchen Besuch garantiert nicht im Wahlkampf“.

Meint es Merkel also nicht ernst?

Die Deutschen können streng sein, wenn es um korrektes Gedenken geht. Man kritisiert die Kanzlerin für den Zeitpunkt, zu dem sie in das ehemalige Konzentrationslager gefahren ist. Andererseits hat man ihre sieben Vorgänger nie für den Zeitpunkt kritisiert, zu dem sie alle nicht nach Dachau gefahren sind.

Max Mannheimer ist 93 Jahre alt. Er hat Auschwitz überlebt, verlor aber dort seine Eltern, seine Frau, seine Schwester und einen Bruder. Im August 1944 brachten ihn die Nazis nach Dachau, wo er in Außenlagern Zwangsarbeit verrichten musste. Am 20. April 1945 befreiten ihn amerikanische Soldaten, er war ausgemergelt und an Typhus erkrankt. 1988 wurde er Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, die sich für das Gedenken an das Konzentrationslager und die mehr als 40 000 Todesopfer engagiert. Der Mann mit der weißen Mähne sitzt im Rollstuhl und wird nun neben Merkel über den früheren Appellplatz geschoben. Die beiden plaudern angeregt miteinander, die Kanzlerin dreht beim Reden ihre rechte Hand im Gelenk und hält die linke nah am Körper, eine Geste, die man oft bei ihr sieht. Routine gibt Sicherheit.

Am 14. November 2012 hat Mannheimer in der Zeitung gelesen, dass Merkel zu einem Wahlkampfauftritt auf das Volksfest nach Dachau kommen werde. Am selben Tag schrieb er einen Brief, in dem er sie aus Anlass dieser Reise „herzlich zum Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau“ einlud. Im Dezember nahm Merkel die Einladung an. Man stelle sich vor, sie hätte abgelehnt.

Die Kanzlerin und Max Mannheimer haben jetzt den Ort der Zeremonie aus Anlass des Besuches erreicht. Karl Freller, der Direktor der bayerischen Gedenkstätten, erinnert daran, wo genau für diese Stunde der kleine Stuhlkreis aufgestellt worden ist, auf dem Überlebende des Konzentrationslagers Dachau Platz genommen haben und von Merkel einzeln begrüßt worden sind. Viele Zeitzeugen sind es nicht mehr. Hier, erzählt Freller, hielten die SS-Leute die stundenlangen quälenden Zählappelle ab, hierher schleiften die Lebenden aus den Baracken auch die Toten, damit die Zahlen stimmten. Merkel steht rechts vom Redner. Sie hat die Hände verschränkt und blickt zu Boden.

Man muss annehmen, dass sie selbst mal darüber nachgedacht hat, wie das wirken könnte, dieser Besuch zwischen zwei Auftritten, dieses Gedenken in Form einer Sandwich-Visite. Merkel und ihre Leute sind bekannt für ihre Aufmerksamkeit in Stilfragen, ja sie werden manchmal belächelt für ihre Über-Vorsicht, unnötiger Kritik keinen Anlass zu liefern. Doch zumindest gegenüber Journalisten wurden die Bedenken wegen der Reise nach Dachau in Merkels Umgebung als unverständlich zurückgewiesen. Eine Kanzlerin müsse sich fortwährend auf unterschiedliche Situationen einstellen. Merkel selbst hat die Abwechslung auch zwischen schönen und traurigen Gegebenheiten jüngst als ein besonderes Charakteristikum ihres Amtes beschrieben: „Wer das nicht aushält, der kann nicht Bundeskanzler sein.“

Jetzt redet sie in der Gedenkstätte. „Wir alle verbinden mit diesen Gebäuden ein beispiellos furchtbares und unmenschliches Kapitel unserer deutschen Geschichte“, sagt sie und fügt an die Überlebenden gerichtet hinzu: „Für Sie waren Entrechtung und Verfolgung, Hunger und Krankheit, Terror und Gewalt bis hin zu willkürlichen Ermordungen einst bitterer Alltag. Für mich ist es ein sehr bewegender Moment, mit Ihnen an diesem Ort zusammenzutreffen.“ Die Kanzlerin liest streng vom Blatt. Die Erinnerung an die Schicksale erfülle sie mit „tiefer Trauer und Scham“. Nur kurz hebt sie immer mal wieder den Blick, aus der Distanz sieht es so aus, als gehe er bisweilen über die Zuhörer hinweg. Merkels Stimme klingt leicht belegt. Kann aber auch am Wahlkampf liegen. Sie mahnt, das Gedenken weiter zu fördern, sie spricht den Überlebenden ihren Respekt aus für deren Bemühen um die Erinnerung und schließt ihre Rede mit den Worten: „Herzlichen Dank, dass ich heute hier sein darf.“

Ein bewegender Moment also. So hat sie es eben selbst gesagt. Und da hat der Besuch erst begonnen. Hat sie vielleicht selbst unterschätzt, was es bedeuten kann, wenige Minuten nach einem KZ-Besuch durch jubelnde Menschenmassen in einem dampfenden Bierzelt zu gehen, lächeln zu müssen, Hände zu schütteln, freundliche Fotos zu machen? Oder muss eine Bundeskanzlerin eine Art inneren Schalter haben, den sie jederzeit umlegen kann? Von fröhlich auf ernst und umgekehrt? Und selbst wenn: Wie echt kann das dann sein, das eine wie das andere?

Mit Max Mannheimer und dessen Enkelin legt die Kanzlerin einen Kranz vor der Mauer nieder, auf der die große Bronze-skulptur steht, die ineinander verflochtene Skelette zeigt. Merkel bleibt erst alleine stehen, dann tritt sie zu Mannheimer und verharrt noch einmal einige Sekunden.

Ein Politiker, der gedenkt, ist sehr wahrscheinlich ein Politiker unter Stress. Dutzende Kameras verfolgen den Moment, jede Bewegung, jede Regung. Deutsche Politiker sind außerdem nicht nur Repräsentanten eines Landes mit schwerer geschichtlicher Hypothek. Einer von ihnen, Willy Brandt, hat mit seinem Kniefall von Warschau eine Form des Gedenkens geschaffen, deren Größe alles überragt und die doch zugleich nicht einfach kopiert werden darf. Man kann sich deshalb nicht sicher sein, dass ein Politiker, ein Staatschef oder eben auch eine Kanzlerin in so einem Moment wirklich nur an die Opfer denkt. Und nicht mindestens auch daran, einfach bloß keinen Fehler zu machen.

Die Leiterin der Gedenkstätte führt Merkel danach durch zwei Räume. Der eine ist der Schubraum, in dem neue Häftlinge sich auskleiden und sämtliche Habseligkeiten abgeben mussten. Alles wurde registriert, in einem schweren Holztisch am rechten Rand des Raumes kann die Kanzlerin noch Karteikarten sehen, die damals angelegt wurden. Von hier aus mussten die Neuzugänge ins Häftlingsbad, wo sie erst den Kopf kahl geschoren bekamen, ein Schnitt, der im Zynismus der Demütigung „Dachauer Frisur“ genannt wurde. Dann ging es weiter unter die Duschen, die in mehreren Reihen an der Decke des Raumes angebracht waren.

Die Kanzlerin steht jetzt zwischen zwei Stützpfeilern, in deren Putz noch eiserne Verankerungen zu sehen sind. Daran wurden seinerzeit Querbalken aus Holz angebracht, an denen die SS Häftlinge mit den Händen hinter den Rücken gebunden aufhängte. Das Häftlingsbad wurde von 1941 an für diese als Baumhängen bekannte Strafe mitgenutzt, weil die Pfähle auf dem Appellplatz wegen der in den Kriegsjahren ansteigenden Zahl der Häftlinge nicht mehr ausreichten.

Vor der Nachbildung eines Prügelbocks aus Holz trifft Merkel ehemalige Gefangene. Zum Beispiel Karl Rom, der in Litauen verhaftet wurde. 87 Jahre ist er heute alt. Karl Rom erzählt Merkel, dass er auf einem solchen Bock mit dem Ochsenziemer verprügelt wurde, weil er im Winter bei der Zwangsarbeit von Etiketten auf Zementsäcken etwas Papier abgerissen hatte, um sich die kalten Füße einzuwickeln. Rom lebt heute in der Nähe von München, er hat nach dem Krieg eine Deutsche geheiratet. Ob er die Entscheidung bereut habe, hier zu bleiben, fragt ihn Merkel. Nein, es war genau richtig so, antwortet der Mann.

Die Überlebenden hätten das Gefühl gehabt, dass die Kanzlerin zuhöre und auf ihre Fragen eingehe, sagt hinterher einer, der dabei war und nicht zu Merkels Tross gehört. Eine halbe Stunde spricht die Kanzlerin mit einer Handvoll ehemaliger Häftlinge. Zu wenig Zeit? Gibt es eine Mindestdauer, die bei solchen Gesprächen eingehalten werden muss, damit das Gedenken glaubwürdig ist? Ernst gemeint, wie Renate Künast sagen würde?

Max Mannheimer sitzt während der Gespräche in seinem Rollstuhl und schaut schweigend zu. Am Ende der Zeremonie sagt er drei Worte zu Merkel: „Danke, danke, danke.“ Dann steigt die Kanzlerin in ihren Wagen und die Kolonne braust los. Zum Bierzelt.

Es ist 20.14 Uhr, als Merkel, umringt von der Blaskapelle Amper Musikanten, zu reden beginnt. Sie begrüßt Minister und Landräte, Abgeordnete – und fast beiläufig auch Charlotte Knobloch. Vier Jahre lang war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und noch immer steht sie der israelitischen Kultusgemeinde in München vor. Wer, wenn nicht sie, wäre eine respektable Instanz zur Bewertung der Reise nach Dachau? Knobloch hat Merkel schon tagsüber verteidigt. Vor allem aber war sie nicht nur mit in der Gedenkstätte – sie sitzt nun auch noch im Bierzelt.

„Einen größeren Kontrast kann es kaum geben“, sagt Merkel. „Vor wenigen Minuten war ich noch in der Gedenkstätte Dachau, ein Katzensprung von hier.“ Nun sei sie „auf einem Volksfest der Fröhlichkeit und des Lebens“. Es ist nicht wirklich still im Zelt, aber viele Leute hören zu. „Auch damals war das KZ mitten unter uns. Wer wollte, konnte damals auch sehen und hören.“ Was damals geschehen sei, dürfe sich nie wiederholen, sagt Merkel, niemand dürfe wegen seiner Herkunft oder seiner Gesinnung ermordet werden, „mitten unter uns“. Applaus. Der Dirigent der Amper Musikanten sitzt an der Seite der Bühne auf einem Stuhl und nickt.

Ein wenig erzählt Merkel noch von ihrem Besuch, von einem französischen Überlebenden des Lagers, der extra seinen Urlaub in den Alpen abgebrochen habe, um dabei zu sein. Mit ihm habe sie darüber gesprochen, „wie es damals war, nach dem Krieg“, sagt Merkel, und welches Glück heute das vereinte Europa bedeute. Das ist für die Kanzlerin aus dem Anfang ihrer Rede der Ausgang. Vom Thema Europa kommt sie zum Euro, zur Globalisierung, zu Arbeitsplätzen, sicheres Terrain.

Nach sechs Minuten spricht sie über die wachsende Weltbevölkerung, den Anteil der Deutschen daran und dass es das hervorragende bayerische Schulsystem jedem ermögliche, dies nun als Prozentsatz auszurechnen. Es ist Merkels erste humorige Bemerkung an diesem Abend, sie erntet fröhlichen Jubel dafür; der erste Scherz, knapp zwei Stunden nach ihrer Landung in Dachau.

Den Besuch in der Gedenkstätte hat sie im Bierzelt in einer politischen Botschaft gewürdigt, die nur ein wenig aussah, als habe sie auch eine persönliche Note. Sie hat, gemessen an den eigenen Worten ihrer Rede in der Gedenkstätte, nur zu erkennen gegeben, wie der Verstand berührt worden ist. Das Gefühl der Besucherin Merkel bleibt unbekannt. Das übrigens wäre genau so gewesen, wenn sie nicht im Wahlkampf nach Dachau gekommen wäre.

Nico Fried
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Nico Fried leitet seit 2007 die SZ-Parlamentsredaktion in Berlin. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen berichtet er über die Personen und Ereignisse im Kanzleramt, den Ministerien, dem Parlament und anderen Orten, wo Politik gemacht wird. Der gebürtige Ulmer lebt seit 1996 in der Hauptstadt, wo er vier Jahre lang für die Berliner Zeitung arbeitete. 2000 kam Fried zur Süddeutschen Zeitung und berichtete aus der Parlamentsredaktion über die deutsche Außenpolitik, die damalige PDS und später über die Grünen. 2004 übernahm er die journalistische Beobachtung der SPD, drei Jahre später die Büroleitung. Nico Fried, geboren 1966, hat in München und Hamburg Politikwissenschaften studiert und mit einem Magister Artium abgeschlossen.

Nikolaus

Frühaufsteher. Politischer Beobachter aus Leidenschaft. Das Bessere in der Welt entsteht nur, wenn man und frau sich neues zu denken traut.

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